Freitag, 6. Juli 2007
Jener Himmel, der barmherzige Tränen weint - Die Rede des Häuptlings Seattle
Video "Wisdom of Chief Seattle" von Youtube
Version von Dr. Henry Smith (Foto), abgedruckt in der Zeitung „Seattle Sunday Star“ vom 29. Oktober 1887 - Leseprobe aus dem Buch "Meine Worte sind wie die Sterne" von Sonja Probst und Ernst Probst:
Jener Himmel,
der barmherzige Tränen weint
Jener Himmel, der seit undenklichen Zeiten barmherzige Tränen auf unsere Väter weint und der uns ewig dünkt, könnte sich wandeln. Heute noch klar, könnte er morgen von Wolken bedeckt sein. Meine Worte sind wie Sterne, die niemals untergehen. Den Worten Seattles kann der Große Häuptling Washington vertrauen, mit ebensolcher Gewissheit, wie unsere bleichgesichtigen Brüder auf die Wiederkehr der Jahreszeiten bauen können.
Der Sohn des weißen Häuptlings sagt, sein Vater sende uns Grüße der Freundschaft und Zeichen seines guten Willens. Das ist freundlich, denn wir wissen, dass er umgekehrt unserer Freundschaft kaum bedarf, denn sein Volk ist zahlreich. Es ist wie das Gras der weiten Prärien, während wir nur wenige zählen und den vereinzelten Bäumen in der windgepeitschten Ebene gleichen.
Der große, und wie ich annehme, gute weiße Häuptling gibt uns Nachricht, dass er unser Land kaufen, uns aber genug davon lassen will, dass wir ein angenehmes Leben führen können. Das scheint wirklich großzügig, denn der rote Mann hat keine Rechte mehr, die jener achten müsste, und auch klug scheint das Angebot zu sein, da wir nicht länger eines großen Landes bedürfen.
Es gab eine Zeit, da wir das ganze Land bevölkerten, wie die Wellen des windgekräuselten Meeres über den muschelbesäten Grund rollen. Doch diese Zeit ist längst vergangen, und mit ihr schwand die Größe nun fast vergessener Stämme. Ich will unseren vorzeitigen Niedergang nicht betrauern, noch will ich meine bleichgesichtigen Brüder tadeln, dass sie ihn beschleunigt haben, denn irgendwie tragen auch wir Schuld.
Wenn unsere jungen Männer erzürnen über tatsächliches oder scheinbares Unrecht und ihre Gesichter mit schwarzer Bemalung entstellen, dann werden auch ihre Herzen entstellt und schwarz, und ihre Grausamkeit ist unerbittlich und kennt keine Grenzen, und unsere Alten können sie nicht mehr zurückhalten. Aber wir wollen hoffen, dass die Feindseligkeiten zwischen dem roten Mann und seinen bleichgesichtigen Brüdern nie wieder aufflammen. Wir hätten alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.
Es ist wahr, dass für unsere jungen Krieger die Rache eine Genugtuung ist, auch wenn sie mit dem Leben bezahlt werden muss, aber wir alten Männer, die in Zeiten des Krieges daheim bleiben, und die alten Frauen, die Söhne zu verlieren haben, wissen es besser.
Unser großer Vater Washington* – denn ich nehme an, er ist nun unser wie euer Vater, seit König George* seine Grenzen nach Norden verlegt hat –, unser großer und guter Vater also gibt uns die Nachricht durch seinen Sohn, der zweifellos unter den Seinen ein großer Häuptling ist, dass er uns beschützen wird, wenn wir seinem Wunsch folgen. (*Die Indianer glaubten, der bereits verstorbene George Washington (1732–1799) sei noch Präsident der USA und König Georg IV. von England (1762–1830) regiere weiterhin). Seine mutigen Heere werden uns eine waffenstarrende Schutzmauer sein, und seine großen Kriegsschiffe werden dicht an dicht in unseren Häfen liegen, so dass unsere alten Feinde hoch im Norden, die Tsimshians und Haidas, unseren Frauen und Alten kein Schrecken mehr sein werden. Dann wird er unser Vater und wir seine Kinder sein.
Aber kann das jemals sein? Euer Gott ist nicht unser Gott. Euer Gott liebt euer Volk und hasst meines; er hält den weißen Mann liebevoll in seinen starken Armen und leitet ihn wie ein Vater seinen kleinen Sohn, doch seine roten Kinder hat er verlassen; er lässt euer Volk täglich kräftig wachsen, und bald wird es über das Land fluten, während mein Volk verebbt wie eine rasch zurückgehende Tide, die niemals wieder ansteigt. Der Gott des weißen Mannes kann seine roten Kinder nicht lieben, sonst würde er sie beschützen. Sie scheinen Waisen zu sein, nirgends können sie Hilfe suchen. Wie können wir da Brüder werden? Wie kann euer Vater unser Vater werden und uns Wohlstand bescheren und in uns Träume von neuer Größe wecken?
Euer Gott scheint uns voreingenommen. Er erschien dem weißen Mann. Wir sahen ihn nie. Wir hörten nicht einmal seine Stimme: Dem weißen Mann gab er Gebote, aber für seine roten Kinder, mit denen dieser weite Kontinent übersät war wie das Firmament von den Sternen hatte er kein einziges Wort. Nein, wir sind zwei verschiedene Rassen und müssen es immer bleiben. Wir haben wenig gemeinsam. Die Asche unserer Ahnen ist uns heilig, ihre letzte Ruhestätte heiliger Boden, während ihr euch anscheinend ohne Kummer von den Gräbern eurer Väter entfernt.
Eure Religion schrieb ein zürnender Gott mit eisernem Finger auf Steintafeln, damit ihr sie nicht vergesst. Der rote Mann könnte sich nie an sie erinnern noch sie verstehen.
Unsere Religion ist die Überlieferung unserer Ahnen, sind die Träume unserer Alten, die ihnen der Große Geist gab, sind die Visionen unserer Friedenshäuptlinge, und sie ist geschrieben in die Herzen unseres Volkes.
Eure Toten lieben euch und die Stätten ihrer Herkunft nicht mehr, sobald sie ihre Gräber aufgesucht haben. Sie wandern weit hinaus jenseits der Sterne, sind bald vergessen und kehren niemals wieder. Unsere Toten vergessen nie die schöne Welt, die ihnen ihr Dasein beschert hat. Sie lieben immer noch die sich schlängelnden Flüsse, die gewaltigen Berge und die abgelegenen Täler, fühlen sich stets voll Zärtlichkeit zu den einsamen Lebenden hingezogen und kehren oft wieder, um sie aufzusuchen und ihnen Trost zu spenden.
Tag und Nacht können nicht nebeneinander verweilen.
Der rote Mann ist vor dem nahenden weißen Mann stets geflohen wie die an der Bergflanke wallenden Nebel vor der glühenden Morgensonne fliehen.
Wie auch immer, euer Vorschlag scheint gerecht, und ich denke, mein Volk wird ihn annehmen und sich in die Reservation zurückziehen, die ihr ihm anbietet, und wir werden dort für uns und friedlich leben, denn die Worte des großen weißen Häuptlings klingen wie die Stimme der Natur, die zu meinem Volk spricht aus schwarzer Nacht, die uns rasch umhüllt wie dichter, landeinwärts ziehender Nebel von der mitternächtlichen See. Es zählt kaum, wo wir unsere letzten Tage verbringen.
Die Nacht des Indianers verspricht schwarz zu werden. Kein heller Stern schwebt über dem Horizont. Von Fern klagt der Wind mit trauriger Stimme. Den roten Mann scheint eine grimmige Vergeltung seiner Rasse zu ereilen, und wo immer er sich auch hinwenden mag, er wird stets den festen Tritt des fürchterlichen Verfolgers hinter sich hören, wie die verwundete Hirschkuh die nahenden Schritte des Jägers hört, und sich seinem Schicksal fügen. Noch einige Monde, noch einige Winter, und nicht einer aus den mächtigen Scharen, die einst dieses weite Land bevölkerten oder die nun in gelichteten Reihen durch die einsamen Weiten ziehen, nicht einer von ihnen wird übrigbleiben, um an den Gräbern eines Volkes zu weinen, das einst so mächtig und hoffnungsvoll wie eures war.
Doch warum sollten wir hadern? Warum sollte ich über das Schicksal meines Volkes murren? Ein Stamm setzt sich aus Einzelnen zusammen und ist als Ganzes nicht besser als diese. Menschen kommen und gehen wie die Wellen des Meeres. Eine Träne, ein Tamanawus, ein Klagegesang, und sie sind unserem sehnsuchtsvollen Blick für immer entschwunden. Sogar der weiße Mann, dessen Gott mit ihm gewandelt ist und mit ihm gesprochen hat, als Freund zum Freunde, kann dem Schicksal aller nicht entrinnen. Vielleicht sind wir doch Brüder.
Wir werden sehen.
Wir werden nachdenken über euren Vorschlag, und wenn wir uns entschieden haben, werdet ihr es erfahren. Aber sollten wir ihn annehmen, so mache ich schon hier und heute dieses zur ersten Bedingung: dass uns nicht verwehrt wird, auf unseren Wunsch und ohne belästigt zu werden, die Gräber unserer Ahnen und Freunde aufzusuchen. Jeder Teil dieses Landes ist meinem Volk heilig. Jeder Berg, jedes Tal, jede Ebene, jeder Hain wird durch eine liebe Erinnerung oder ein trauriges Erlebnis meines Stammes geheiligt.
Selbst die Felsen, die scheinbar stumm in glühender Hitze die stille Küste säumen, feierlich und erhaben, sogar sie erschauern vor der Erinnerung an Vergangenes, das mit dem Schicksal meines Volkes verbunden ist, und selbst der Staub unter euren Füßen antwortet unseren Schritten liebevoller als euren, denn es ist die Asche unserer Ahnen, und unsere bloßen Füße spüren ihre sanfte Berührung, denn der Boden ist erfüllt vom Leben unserer Verwandten.
Die finsteren Krieger, die liebevollen Mütter und frohgemuten Jungfrauen, die kleinen Kinder, die einst hier lebten und beglückt waren und deren Namen nun vergessen sind, sie lieben diese Einöden immer noch, deren tiefe Abendfarben in der Gegenwart dunkler
Geister schattengrau werden. Und wenn der letzte rote Mann von der Erde verschwunden und die Erinnerung des weißen Mannes an ihn zur Legende geworden ist,
dann werden diese Gestade übervoll sein von den unsichtbaren Toten meines Stammes, und wenn eure Kindeskinder sich allein wähnen draußen auf dem Feld, in den Läden, auf der Straße oder in der Stille des Waldes, so werden sie nicht allein sein. Auf der ganzen Erde gibt es keinen Ort, welcher der Einsamkeit vorbehalten ist. Des Nachts, wenn die Straßen eurer Städte und Dörfer still daliegen, und ihr glaubt, sie seien verlassen, dann wimmeln sie von den wiederkehrenden Scharen, die einst dieses Land bevölkerten und es immer noch lieben. Der weiße Mann wird niemals allein sein.
Möge er gerecht sein und mein Volk freundlich behandeln, denn die Toten sind nicht völlig machtlos.
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