Donnerstag, 12. Juli 2007

Das Nordlicht



Ein kleiner, hilfloser Waisenknabe hatte, da er keine liebenden Geschwister hatte, nach langem Hinundherirren endlich bei einem lieblosen Onkel Obdach gefunden, der ihn aber so rauh und grausam behandelte und ihm dabei so äußerst wenig zu essen gab, daß er zuletzt so dünn und schwächlich wurde, daß ihn beinahe die Sonne umschien. Der böse Onkel hatte nämlich vor, sich seiner auf diese billige Art zu entledigen; aber der Knabe schien doch eine starke und zähe Natur zu besitzen, denn sein Tod ließ so lange auf sich warten, daß sein Peiniger beschloß, das entgegengesetzte Mittel anzuwenden, und seiner Frau befahl, ihm stets das fetteste Fleisch vorzusetzen und es ihm, wenn er satt sei, mit Gewalt hineinzustopfen.

Sobald aber der Knabe dies merkte, nahm er die erstbeste Gelegenheit wahr und entfloh. Traurig wanderte er nun den ganzen Tag herum, und als der Abend kam, suchte er sich einen Schlafplatz auf einer hohen Fichte, damit ihn nicht die wilden Tiere während der Nacht zerrissen.

Da hatte er denn einen sonderbaren Traum, in dem ihm eine göttliche Gestalt erschien und zu ihm sagte: "Ich bedaure dich, kleiner Knabe; doch steh auf und folge mir; ich will dir helfen!" Darauf erwachte der Knabe, kletterte vom Baum herab und überließ sich der Führung eines vor ihm stehenden Manitus.

Als er eine Weile fortgewandert war, kam er hoch hinauf in den Himmel, wo er einen Bogen mit zwölf Pfeilen bekam und ihm befohlen wurde, sofort zum nördlichen Horizont zu ziehen, um die dort hausenden wilden Geister zu töten.

Das tat er denn auch, und er verschoß elf Pfeile, die wie leuchtende Blitze dahinflogen, ohne jedoch einen dieser Manitus zu treffen, viel weniger zu töten; denn diese konnten sich im Nu in irgendeinen unverwundbaren Gegenstand verwandeln. Auch wußten sie, daß die Pfeile des Knaben "medizinen" waren und die Kraft besaßen, sie alle zu vernichten.

Seinen letzten Pfeil, den zwölften, richtete er auf das Herz des Manituchiefs, doch dieser transformierte sich schnell in einen großen Felsen, und das Geschoß wurde ebenfalls vergebens abgefeuert. "Jetzt sind deine Gaben vergeudet", schrie jener Chief darauf, "und du bist nun in meiner Macht und sollst zur Strafe für deine Vermessenheit für alle Zeiten am nördlichen Himmel festgebannt sein und nur zeitweilig als Nordlicht ein Lebenszeichen von dir geben!"

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Literatur:
Karl Knortz: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas, Jena 1871, Nr 15

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