Mittwoch, 9. Juli 2008
Taschenbuch über Häuptling Seattle bei "Libri" erhältlich
Wiesbaden (welt-der-indianer) - „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werden die Menschen feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“ Diese oft zitierten Worte werden dem weisen Indianerhäuptling Seattle (um 1786–1866) zugeschrieben, der um 1855 eine engagierte Rede gehalten haben soll, welche die Weißen zur Achtung der Natur ermahnte. In Wirklichkeit stammt der eingangs erwähnte Satz aus einer Prophezeiung des kanadischen Stammes der Cree.
Seattle wurde zu einem der großen Idole der Ökologie-Bewegung des 20. und 21. Jahrhunderts. Obwohl heute mehr denn je unklar ist, ob der Häuptling die berühmte Rede überhaupt und – wenn ja – so gehalten hat, werden seine Weisheiten tausendfach in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, im Film, Fernsehen und Internet verbreitet.
Wer aber war dieser Mann, der bereits zu seinen Lebzeiten „der Große“ oder „Sokrates des Nordwestens“ genannt wurde und dessen Worte – mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod – immer noch so viel Eindruck auf die Menschen in aller Welt machen? War er tatsächlich ein tapferer Krieger, ein bedeutender Häuptling, ein weiser Seher, ein charismatischer Prophet?
Seattle kam an einem nicht mehr eruierbaren Tag um 1786 zur Welt. Gegenüber weißen Siedlern erwähnte er später, er sei auf Blake Island im zentralen Puget Sound (auch Pugetsund genannt) zur Welt gekommen. Der etwa 150 Kilometer lange, stark verzweigte und inselreiche Puget Sound, etwa 200 Kilometer südlich der kanadischen Grenze, ist eine Bucht an der Pazifikküste des heutigen Bundesstaates Washington.
Die Geburt von Seattle fiel in eine für die Geschichte seines Volkes apokalyptische Zeit. Damals dezimierten verheerende Seuchen die indianische Bevölkerung. Außerdem trugen neuartige Waren und Schusswaffen zur Unruhe bei.
Seattles Vater Schweabe fungierte als Häuptling der Suquamish-Indianer, die auf Bainbridge Island jenseits des Puget Sound lebten, wo die Duwamish-Indianer an einem Fluss lagerten. Seine Mutter Scholitza war die Tochter eines Häuptlings der Duwamish-Indianer. Da die Abstammung bei diesen Indianern immer der weiblichen Linie folgte, galt Seattle als ein Angehöriger der Duwamish.
Der Name Seattle wurde von den Indianern auf verschiedene Weise ausgesprochen. Eine Variante war „See-at-la“, die andere „See-alth“.
Im Alter von etwa sechs Jahren sah Seattle die ersten im Puget Sound ankommenden Engländer: Am 20. Mai 1792 landete dort Kapitän George Vancouver (1758–1798) mit seinem Schiff „H. M. S. Discovery“. Er ging auf Bainbridge Island vor Anker und schrieb in sein Logbuch, das Dorf sei das „schäbigste seiner Art“. Sogar die besten Hütten seien „arm und erbärmlich“. Seattle zeigte sich von dem Schiff und den Kanonen der Engländer sehr beeindruckt.
Bereits in jungen Jahren genoss Seattle unter den Indianern ein hohes Ansehen. Während einer Fragestunde über seine Zukunft wurde dem Jugendlichen großer Wohlstand prophezeit. Tatsächlich schätzte man ihn später als Stammesführer. Er brachte sechs lokale Stämme unter seine Kontrolle.
Die erste Ehefrau von Seattle starb gleich nach der Geburt der Tochter Angeline. Seine zweite Gattin schenkte ihm Söhne und Töchter. Die Ehefrauen stammten aus Tola’ltu am Westufer von Elliot Bay. Seattle verfügte über acht Sklaven, was als Zeichen für Reichtum und Status galt.
Bei einem Angriff der mächtigen Cowichans-Indianer von Vancouver Island tat sich Seattle als Krieger hervor. Während der Phase, in der sein berühmter Onkel Kitsap ein Bündnis von Kriegern gegen die Cowichans anführte, stellte Seattle einer Gruppe der Angreifer, die mit Kanus den Green River herunterfuhren, erfolgreich einen Hinterhalt.
Außerdem griff Seattle die S’Klallam, ein einflussreiches indianisches Volk an der Nordküste der Olympic Peninsula, an. Zudem soll er an Angriffen am oberen Snoqualmie River teilgenommen haben.
1833 gründete die „Hudson’s Bay Company“ am Puget Sound das „Fort Nisqually“. Francis Herron, der Chefhändler der Company, hielt Seattle für einen bedeutenden und gefährlichen Indianer. Deswegen bat er ihn um Unterzeichnung eines Vertrages, der Mord unter Eid verneinte. Das Personal der Company verlieh dem ungefähr 1,80 Meter großen Seattle den Spitznamen „Le Gros“ („der Große“).
Durch die Ermordung eines Medizinmannes der Skyomish-Indianer verursachte Seattle 1837 so viel Ärger, dass William Kittson von der „Hudson’s Bay Company“ hoffte, die Suquamish würden diesen töten. Doch jene wussten seine Führung zu schätzen.
Aus Rache für den Mord an einem Gefolgsmann überfiel Seattle 1841 das Dorf Yila’lgos am Zusammenfluss von Green River und White River. Sechs Jahre später unterstützte er die Suquamish bei einem Überfall auf den Hauptsitz der Chemakum-Indianer, wobei diese rivalisierende Gruppe ausgelöscht wurde.
Der Tod eines seiner Söhne erschütterte Seattle so sehr, dass er den katholischen Glauben annahm und sich auf den Namen „Noah“ taufen ließ. Die Taufe erfolgte vermutlich in der „St. Joseph of Newmarket Mission“. Auch Seattles Kinder wurden getauft und christlich erzogen.
Der Übertritt zum katholischen Glauben markierte das Ende der kämpferischen Zeit von Seattle. Nun entwickelte er sich zum Anführer, der nach Zusammenarbeit mit den ankommenden weißen Siedlern strebte. Mit den Weißen führte er nie Krieg.
Die Stimme von Seattle war angeblich so gewaltig, dass man ihn eine halbe Meile weit hörte. Es hieß, von seinen Lippen seien gewichtige Sätze gekommen wie der unaufhörliche Donner von Wasserfällen, die von unerschöpflichen Quellen gespeist würden.
1846 erreichten weiße Siedler den Puget-Sound. Die herzliche Begrüßung und die Hilfe, die Seattle ihnen zuteil werden ließ, brachten ihm den Ruf eines Freundes der Weißen ein. In einer Rede, mit der Seattle die Besucher Isaac N. Ebey und B. F. Shaw im Sommer 1850 begrüßte, bat er sie, sich unter seinem Volk anzusiedeln. Diese Rede wurde von Shaw aufgezeichnet, bald danach im „Oregon Spectator“ veröffentlicht und ermutigte zur Besiedlung im Tal des Duwamish-Flusses.
Seattle suchte gezielt Siedler aus, mit denen er Geschäfte machen konnte. Um solche Kontakte zu pflegen, wählte er einen Wohnsitz bei Olympia. Im Sommer 1851 organisierte er zusammen mit dem Kaufmann Charles Fay aus San Francisco einen Fischfang im Elliott Bay.
Als Charles Fay im Herbst 1851 abreiste, konnte Seattle Dr. David („Doc“) Maynard (1808–1873) dafür gewinnen, den Platz von Fay einzunehmen. Im Frühling 1852 organisierten Maynard und Seattle einen weiteren Fischfang bei Dzidzula’lich, einem Indianerdorf am Ostufer der Bucht.
Im Sommer 1852 gründete David („Doc“) Maynard einen Handelsposten am Ufer des Duwamish-Flusses. Seattle und Maynard wurden so gute Freunde, dass der Doktor die neue Siedlung nach dem Häuptling benannte.
Da die Weißen die Namen „See-at-la“ oder „See-alth“ nicht gut aussprechen konnten, sagten sie „Seattle“. Darüber war der Häuptling aber nicht sehr erfreut. Er meinte, er werde sich nach seinem Tod jedes Mal, wenn Seattle gesagt würde, im Grab umdrehen.
Seattles Bemühungen, an der Entwicklung der nach ihm benannten Siedlung nachhaltig teilzunehmen und die Zukunft seines Volkes mit dem der Siedler zu vermischen, scheiterten aus zwei Gründen: wegen des Hungers nach Land und dem Wunsch vieler einflussreicher Weißen, ihre Leute getrennt von den Indianern zu halten. Dies minderte jedoch Seattles Freundschaft und Loyalität nicht.
Ab 1854 kaufte Isaac Stevens (1818–1862), der Gouverneur des Territoriums Washington, das Land der Indianer auf oder beschlagnahmte es. Im Januar 1854 besuchte der Gouverneur Elliot Bay und kündigte Vertragsverhandlungen an, was Seattle begrüßte.
Während der Vertragsverhandlungen vom 27. Dezember 1854 bis zum 9. Januar 1855 diente Seattle als Sprecher der Indianer. Der alte Häuptling beklagte, die Tage der Indianer gingen vorüber und die Zukunft gehöre dem weißen Mann. Von Seattles Rede machte sich Dr. Henry Smith (1830–1915), ein Chirurg und Schriftsteller mit dem Pseudonym „Paul Garland“ und einem Hang für blumige viktorianische Dichtung, angeblich Notizen.
Obwohl Seattle bezweifelte, dass sein Volk Geld für sein Land erhalten werde, setzte er als Erster sein Zeichen unter das mit Gouverneur Stevens vereinbarte Vertragsdokument. Damit wurde der juristische Anspruch auf etwa 2,5 Millionen Acres Land (ein Acre = 4047 Quadratmeter) abgetreten und ein Reservat für die Suquamish garantiert, aber keines für die Duwamish.
Aus Unzufriedenheit mit den Verträgen und Ärger über die Arroganz der Weißen erkannten viele Duwamish die Führerschaft von Seattle nicht mehr an. Dies führte schließlich zum so genannten „Yakima Indianer Krieg“ von 1855 bis 1857.
Spätere Vorwürfe von Seiten der Indianer bezüglich Seattles Doppelzüngigkeit während dieses Konflikts deuteten an, dass der Häuptling einerseits versuchte, mit allen indianischen Gruppen östlich und westlich der Berge Kontakt zu halten, andererseits aber ein treuer Verbündeter der Weißen blieb, die durch seine Kontakte geheime Informationen erhielten.
Nach der Niederlage der Indianer in diesem Konflikt bemühte sich Seattle, seinem Volk zu helfen. Er bat – allerdings erfolglos – um Nachsicht für den indianischen Anführer Leschi (1808–1858), den Häuptling der Nisqually, der am 19. Februar 1858 gehenkt wurde. Außerdem ersuchte er den Gouverneur um die baldige Ratifizierung eines Vertrages.
Im „Fort Kidsap Reservat“ wollte Seattle den Einfluss von Whisky-Verkäufern einschränken und die Ritualmorde an Sklaven verhindern. Wie im Vertrag gefordert, gab Seattle seine eigenen Sklaven frei. Außerhalb des Reservats beteiligte er sich an Treffen, um Zwistigkeiten der Indianer zu lösen.
Seattle unterhielt gute Beziehungen zu William De Shaw, einem Indianer-Vertreter und Eigentümer eines Handelspostens am Agate Pass, sowie zu George Meigs, in dessen alkoholfreier Firmenstadt indianische Arbeiter einen Ort fanden, wo sie vor räuberischen Whisky-Verkäufern sicher waren.
Der mittlerweile alte und verarmte Seattle fragte 1858 in einer Rede, warum der Vertrag von 1855 nicht vom Kongress der Vereinigten Staaten unterzeichnet worden sei. Er beklagte: „Ich war den ganzen Winter sehr arm und hungrig und bin nun sehr krank. Bald werde ich sterben. Wenn dies geschieht, wird mein Volk sehr arm sein. Sie werden nichts besitzen, keinen Häuptling haben und niemanden, der für sie sprechen wird.“
1864 erhielt Seattle das heilige Sakrament der Firmung, womit er seinen christlichen Glauben bestätigte. Führer der indianisch-katholischen Gemeinde war damals nicht Seattle, sondern ein Suquamish-Anführer namens Jacob.
Eine Verordnung der Stadt Seattle von 1865 untersagte Indianern, einen ständigen Wohnsitz innerhalb der Stadtgrenzen zu haben. Dies zwang den Häuptling, den Ort zu räumen, an dem er – wie erwähnt – die Siedler Shaw und Ebey 1850 begrüßt und zur Ansiedlung eingeladen hatte.
In der Folgezeit lebte Seattle im „Port Madison Reservat“ und vermutlich nördlich der Stadtgrenzen, wo Angeline, die Tochter seiner ersten Frau, wohnte. Oft kam er in die Stadt, besuchte Freunde, kümmerte sich um Leute, die in Seattle arbeiteten, und hielt sich in zeitweiligen Zeltplätzen im Hafenviertel auf.
Von Häuptling Seattle existiert ein historisches Foto, das 1865 im hohen Alter – im Jahre vor seinem Tod – entstand und von E. M. Sammis angefertigt wurde. Dieses Bild befindet sich in der „University of Washington Special Collection“.
Am 7. Juni 1866 starb Seattle im Alter von ungefähr 80 Jahren gegen 13 Uhr in einem Altersheim. Er wurde in Suquamish im US-Bundesstaat Washington begraben. Von seinem Grab aus bietet sich ein herrlicher Blick auf den Puget Sound, und in der Ferne kann man gerade noch die Stadt Seattle erkennen.
Nach Ansicht von Historikern überstanden die rund 14000 Indianer des Territoriums Washington – die Suquamish, Duwamish, Nisqually, Puyallup, Makahs, S’Klallams, Quinaielts, Quilehutes, Yakamas, Chehalis, Colville, Spokanes, Couer d’Alène, Hohs und Quits – dank des Einflusses von Häuptling Seattle die Reservationspolitik der USA verhältnismäßig ungeschoren.
Bis zu den 1970-er Jahren war die Geschichte von Häuptling Seattle nur mit dem Namen der Stadt, die seinen Namen trägt, eng verbunden. Doch mit der Umweltbewegung rückte die Rede von Seattle vor Gouverneur Isaac Stevens wieder ins Bewusstsein vieler Amerikaner.
Die Redegewalt und philosophische Aussagekraft von Seattle erinnerte einige Amerikaner an große Griechen des Altertums. Bereits zu Lebzeiten bezeichneten man ihn als den „Sokrates des Nordwestens“. Mit der Rede von Seattle befassten sich unzählige Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, Beiträge im Rundfunk, Fernsehen und Internet sowie Bücher und Filme.
Moderne Versionen der Rede von Seattle beziehen sich auf Dinge, die der Häuptling nie gesehen und von denen er auch nichts gewusst haben kann. Zum Beispiel die Eisenbahn oder die Abschlachtung der Büffel, die erst nach seinem Tod stattfand. Teilweise widersprechen sich Passagen der verschiedenen Redeversionen sogar.
Seattles älteste Tochter Angeline lebte im hohen Alter in einer Hütte nördlich der Stadtgrenze von Seattle. Sie wurde von den Weißen als „Prinzessin Angeline“ bezeichnet. Ein Fotograf namens Edward S. Curtis (1868–1952) machte von ihr Aufnahmen und zahlte ihr für jedes Foto einen Dollar. Er entwickelte sich zu einem der berühmtesten Fotografen amerikanischer Indianer.
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Die Autoren Sonja Probst und Ernst Probst schildern in ihrem Taschenbuch „Meine Worte sind wie die Sterne“ (ISBN 3638957438) die Entstehungsgeschichte der Rede des Häuptlings Seattle. Das bei „GRIN Verlag für akademische Texte“ erschienene Taschenbuch ist beim Buchgroßhändler „Libri“ unter der Internetadresse http://www.libri.de/shop/action/productDetails/7514475/sonja_probst_ernst_probst_hrsg_meine_worte_sind_wie_die_sterne_die_rede_des_haeuptlings_seattle_und_andere_indianische_weisheiten_3638957438.html zum Preis von 14,99 Euro erhältlich.